Es ist mal wieder Wochenende und die Jungs und ich planen einen Ausflug. Statt wie üblich in der Bar zu sitzen, wollen wir das schöne Wetter nutzen und einen kleinen Rundgang durch Berlin machen. Der Plan ist eine Spätitour. Die perfekte Aktivität um geheime Ecken Berlins zu entdecken und dabei wenig Geld auszugeben.

Startpunkt ist der Kiosk neben unserer Bar. Der Weg von dort wird durch das Schicksal bestimmt. Wir haben ein Skatblatt und ziehen nach jedem Spätkauf eine Karte. Das gezogene Symbol bestimmt die Himmelsrichtung in die wir gehen. Karo bedeutet Süden, Piek Osten, Kreuz Norden und Herz Westen. Nachdem wir also eine Karte gezogen haben, müssen wir so lange in die jeweilige Himmelsrichtung laufen bis wir auf den nächsten Späti treffen und dort eine Runde Bier trinken. Danach wird erneut eine Karte gezogen und das Spiel beginnt von vorn.

Als wir gerade das erste Bier kaufen wollen, stoppt uns Steve mit einem Vorschlag.

„Wartet mal! Ich habe eine lustige Idee wie wir die Tour noch spannender gestalten können. Wir wechseln uns nacheinander mit dem Einkauf ab und jeder, der grad dran ist, bringt neben der Runde Bier noch eine Überraschung mit.“ sagt Steve.

„Was denn für eine Überraschung?“ frage ich.

„Völlig egal. Halt irgendwas lustiges was man in einem Kiosk so findet. Ich fang einfach mal an.“

Wir wissen nicht genau was wir von der Idee halten sollen. Steve geht allein in den Späti und kommt mit fünf Bier zurück.

„So bitteschön. Und hier die Überraschung.“ sagt er und hält uns eine Schachtel Kippen hin.

„Man Steve, ich hab grad mit dem Rauchen aufgehört, das ist nicht witzig.“ sagt Erik enttäuscht.

„Das sind Kaugummizigaretten.“ antwortet Steve.

„Oh wie genial! Die hatte ich seit meiner Kindheit nicht mehr.“ brüllt Max strahlend.

Die Freude über die Überraschung ist groß und wir entscheiden Steves Idee auch den Rest des Abends umzusetzen. Ich halte eine Kaugummizigarette an meinen Mund und fühle mich wie ein cooler 12-Jähriger. Die anderen tun mir gleich und wir sehen aus wie eine gefährliche Gang. Phil schluckt die Kaugummizigarette runter und zündet sich eine Echte an.

„Ok Steve, du ziehst als Erster.“ sage ich und halte ihm die Karten hin.

Steve zieht Karo und wir gehen Richtung Süden. Knapp 200 Meter und drei Kaugummizigaretten später treffen wir auf den nächsten Späti. Runde zwei beginnt. Erik betritt den Laden und kommt nach fünf Minuten grinsend wieder raus.

„Erik, wo ist das Bier?“ fragt Steve.

„Oh, das hab ich ganz vergessen.“ antwortet Erik und geht wieder rein. Nach 20 Sekunden kommt er mit fünf Bier wieder raus.

„Prost Männer! Und hier ist die Überraschung.“ sagt er und zeigt uns eine Tüte Luftballons.

Die Tüte wird sofort aufgerissen und jeder nimmt sich eine Hand voll bunter Ballons. Wir haben alle unterschiedliche Pläne, die Möglichkeiten scheinen unbegrenzt. Steve bläst einen nach dem anderen auf und schenkt sie fremden Erwachsenen. Die Leute gucken etwas verwirrt, wissen aber nicht wie sie auf den Mann mit Luftballons und Kaugummizigaretten reagieren sollen und nehmen das Geschenk dankend an. Auch Max bläst die Ballons auf, knotet sie aber nicht zu. Kurz bevor sie platzen, lässt er sie los und sie fliegen kreuz und quer durch die Luft. Erik spielt auf den nichtaufgeblasenen Gummis wie auf einer Mundharmonika. Es klingt schrecklich und Max beschießt ihn mit seinen Ballons. Ich stülpe die Luftballons über meine Schuhe und sage ich hätte Gummistiefel. Der Witz wird als mittelmäßig abgestempelt. Phil wirft die Überraschung weg und zündet sich eine Zigarette an.

„Erik, das war Spitze!“ sage ich und auch er zieht eine Karte.

Kreuz, also zurück in den Norden. Wenig überraschend landen wir wieder beim ersten Spätkauf. Max ist dran und betritt den Laden. Stolz kommt er mit fünf Bier zurück und präsentiert seine Überraschung.

„Essbarer Lippenstift?“ fragt Steve verwundert.

„Ja! Hab ich als Kind immer benutzt. Ihr etwa nicht?“ fragt Max.

„Nicht wirklich.“ sage ich zögernd, nehme den Lippenstift aber an, um Max nicht zu verunsichern.

Jeder von uns bekommt einen. Wir schmieren unsere Lippen ein und sind überrascht von dem guten Geschmack. Sercan beobachtet uns aus der Bar und winkt uns rüber. Als er die Kombination aus Kaugummizigaretten, Luftballons und bunten Lippen sieht, schickt er uns wieder weg. Phil beißt ein großes Stück von seinem Lippenstift ab und zündet sich eine Zigarette an. Er wirkt wie der ältere Bruder, der auf uns aufpassen muss.

Max zieht Karo und wir gehen erneut in den Süden und stoßen erneut auf Späti Nummer 2. Der Weg dorthin ist übersäht mit Ballons und Kaugummizigaretten. Phil ist an der Reihe und geht selbstbewusst in den Laden. Wir warten gespannt und freuen uns über den grandiosen Tag. Das Bier macht sich langsam bemerkbar. Max lallt und Erik wird sentimental.

„So Leute, die nächste Runde Bier, bitteschön. Und als Mitbringsel ein zweites Bier für jeden.“ sagt Phil und hebt die Hände.

Wir jubeln und nehmen die sehr einfallsreiche Überraschung an. Es ist nicht mal eine andere Biermarke. Auf die Idee kann nur Phil kommen. Er klopft sich auf die Schulter, trinkt beide Bier und raucht eine Zigarette. Ich rauche meine letzte Kaugummizigarette und täusche Raucherhusten vor. Auch die Luftballons und der Lippenstift sind verbraucht. Phil zieht eine Karte. Kreuz.

Erneut gehen wir nach Norden und erneut kommen wir am ersten Spätkauf an.

„Jungs, das war ein guter Plan. Sehr abwechslungsreich und witzig dieser Tag.“ ruft Max.

„Eigentlich laufen wir die ganze Zeit bloß eine Straße hoch und runter und trinken Bier wie irgendwelche Assis.“ erwidert Steve.

Steve hat Recht, wird aber gekonnt ignoriert. Ich bemerke, dass wir innerhalb einer Stunde bereits fünf Bier getrunken haben. Meine Überraschung ist daher eine Flasche Wasser gesponsert von Spongebob Schwammkopf. Ich ziehe die nächste Karte. Joker.

„Oh du darfst dir eine Karte aussuchen.“ sagt Erik euphorisch.

„Super! Endlich mal eine andere Richtung.“ freut sich Steve, der anscheinend vergessen hat, dass ich bereits fünf Bier, einen essbaren Lippenstift, 8 Kaugummizigaretten und ein gelbes Wasser hatte.

„Karo!“ rufe ich.

Wir gehen also erneut Richtung Süden und landen erneut beim zweiten Späti. Die Beine werden langsam schwer und auch die Blase ist voll. Steve ist wieder an der Reihe, geht aber versehentlich in eine Zoohandlung.

„Da bin ich! Guckt mal was ich habe.“ sagt Steve als er zurückkommt.

In einer Hand hat er fünf Bier, in der anderen einen Plastikbeutel mit einem Goldfisch.

„Ist der echt?“ frage ich. „Und woher hast du das Bier?“

„Hab ich im Laden gefunden.“ antwortet Steve.

„Und die haben dir, einen offensichtlich angetrunkenen Mann mit Lippenstift und Luftballons, einfach so einen Goldfisch verkauft?“ frage ich verwundert.

„Ja!“ erwidert Steve gelassen. „Ich habe gesagt, es wäre ein Notfall.“

Ich bin verwirrt, will aber unbedingt wissen, was Steve für eine Geschichte erzählt hat, um einen Goldfisch zu bekommen und die Zoohändler zu überzeugen, ihm fünf Bier zu kaufen. Ich kenne Steve, wenn er ein paar Bier getrunken hat, verringert sich sein Wortschatz auf maximal zehn Wörter. Wie erklärt man denn einen so abstrakten Notfall mit nur zehn Wörtern? Ein ungeübtes Ohr versteht die Meisten dieser Wörter nicht mal. Der Gedanke wird mir zu komplex und ich vergesse ihn.

Wir stoßen an und taufen den Goldfisch Paul. Paul ist jetzt Teil unserer Gang. Er ist der Hübsche unserer Klicke, der Frauenschwarm. Wir erhoffen uns mit Paul mehr Aufmerksamkeit zu bekommen, als Frauenmagnet versagt er allerdings auf ganzer Spur. Die Leute gucken uns noch entsetzter an als vorher, was vor allem auch Steves neuer Nasenbrille geschuldet ist. Sein Wortschatz ist mittlerweile auf fünf Wörter gesunken.

Da das Schicksal uns sowieso wieder nach Norden führt, ziehen wir diesmal keine Karte und gehen direkt Richtung Bar. Zeit für eine Pinkelpause.

„Alle fertig? Ja? Dann setzt euch bitte. Ich will mal kurz unsere heutige Aktivität analysieren und auswerten, ob man das wiederholen könnte und ob es sich gelohnt hat.“ fange ich an. „Also geplant war den ganzen Abend mit der Aktivität zu verbringen. Wir waren jetzt knapp über eine Stunde unterwegs. Naja immerhin. Der zweite Punkt war, Berlin zu erkunden. Haben wir irgendwelche neuen Orte entdeckt?“ frage ich.

Keiner antwortet.

„Gut, das hat auch nicht ganz funktioniert. Obwohl, die Zoohandlung kannte ich vorher noch nicht. Das ist doch was. Nächster Punkt, weniger Geld ausgeben. Lasst mich mal kurz rechnen. Wir haben mehr ausgegeben als wenn wir in der Bar gewesen wären. Zusätzlich geben wir jetzt noch Geld in der Bar aus, da ja noch nicht mal die Sonne untergegangen ist. Auch das ist fehlgeschlagen. Aber hey, wir haben Paul.“ sage ich. „Prost!“

Wir stoßen an und beschließen, dass Auswertungen und Statistiken für Nerds sind und bewerten das Spätkauf-Wundertüten-Abenteuer als gelungen. Da keiner von uns eine artengrechte Haltung für Goldfisch Paul garantieren kann, lassen wir ihn bei Sercan, der beim Spätkauf nebenan ein Goldfischglas besorgt. Phil zündet sich eine Zigarette an und bestellt eine Runde Bier.

Kategorien: Berlin

1 Kommentar

Qum Bar · August 30, 2019 um 12:03 pm

Episch

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